Mörderisches

Natürlich gibt es sie bei uns. Im Gartenmöbelladen oder auf der eigenen Veranda. Die ersten Norddeutschen verstauen sie auch schon wieder-mangels Sonne. Die Kunstsinnigen unter uns kennen auch noch etliche gemalte Bilder, auf denen meist weiß gekleidete Schönheiten unter Sonnenschirmen wandeln. Ganze Generationen unserer Großmutter und noch älterer weiblicher Ahnen lebten unter Sonnenschirmen, um ihre vornehme Blässe zu retten. Sie wandelten am Strand oder auf Promenaden, halt da, wo gewandelt und mittels Sonnenschirm umgewandelt wird: Nämlich Sonnenschein zu Schatten.

Ich lebe jetzt in einem Land, wo Sonnenschirme an den Geschäftskassen liegen, wie hierzulande Kaugummis, Illustrierten oder Rauchware. Sie liegen da in kleinen Bergen und wirken wie Regenschirme a la Spazierstock oder Regenschirm a la Knirps. Sie kosten nur weniger als die echten Knirpse: Preise zwischen 99 und 200 taiwanesischen Dollar (DM 3,50 bis 7,00) und auf allen sind zwei Buchstaben gedruckt: UV. Die Schirme hier wandeln nicht nur Sonne in Schatten, sondern Unerträglichkeit in Erträglichkeit. Denn die Sonne ist mit einem handwerklichen, also unübertriebenen Wort gesagt „mörderisch". In diesem Land mit 35 bis 40 Grad und einer äquatoresk scheinenden Sonne fallen mir die Formulierungen aus

1001"-Nacht ein, aus Beduinenromanen und Biographien von Antoine de St. Exupery oder Kurt Rommel. Darin überleben die jeweiligen Wüstenfüchse tapfer das Abenteuer Sonne. Nie vorher habe ich begriffen, was ich damals las: „Mörderische Sonne".

Sonnenschirme sind eigentlich von ihrer Funktion her falsch benannt. Präzise sind es Anti-Sonnenschirme. Christine kaufte erst einen Anti-Langschirm für uns beide (und ließ den im Flughafen-WC stehen, wie der Umgang mit dem durch Sonnenschirme erweiterten Gepäck ebenso trainiert sein will, wie der Umgang mit ersten Hüten, ersten Gebissen oder Gehhilfen). Anschließend kaufte sie zwei Knirpse. Jedem seinen Sonnenschirm. Denn ein einzelner Schirm für zwei bindet unfreiwillig aneinander, Liebe weniger.

Darunter leben wir nun -unter den UV-Knirpsen. Und fallen jetzt auch nicht mehr auf, weil 23 Millionen Chinesen auf Taiwan alle mit Anti-Sonnenschirmen leben. Und zwar einhändig: Viele Radfahrer fahren mit dem Schirm auf ihren Fahrrädern, die meisten rollern auf ihren Motorrollern, die wenigsten schleppen ihre Aktentasche zu Fuß ins Büro-mit dem Schirm über sich. Es ist ein symbiotisches Leben mit dem Anti-Sonnenschirm. Wie der Einsiedlerkrebs im Schneckenhaus leben wir unter dem Anti-Sonnenschirm. Wir fanden in der 2,5 Millionen Stadt Taipei ein einziges Café draußen, das eine Stunde nach Sonnenuntergang öffnete. Sonne tötet hier und damit trösten wir die Töchter, Nachbarn, die Mitarbeiter, die Kollegen am Telefon in Europa und die AZ-Leser. Auch wenn Ihr da zuhause nur wenig Sonnenminütchen habt, dann könnt Ihr jedenfalls raus und rein in sie. Wir fliehen vor diesen Sonnenminütchen. Auch das Sonnen-Glück ist leider immer nur da wo man selbst gerade nicht ist

22. August 2000